Kaum ist das Baby auf der Welt, haben viele Eltern das Gefühl, ständig etwas „verstehen“ oder „einordnen“ zu müssen: Warum ist es heute so anhänglich? Warum schläft es plötzlich schlechter? Bücher wie „Oje, ich wachse!“ versprechen Antworten – und tatsächlich fühlen sich viele durch das Konzept der „mentalen Sprünge“ zunächst erleichtert. Doch kann man Entwicklung wirklich so genau voraussagen? Und was passiert, wenn das eigene Kind nicht ins Schema passt?

Was ist „Oje, ich wachse!“ überhaupt?

Viele Eltern kennen das Buch „Oje, ich wachse!“ von Hetty van de Rijt und Frans X. Plooij. Es beschreibt zehn mentale Entwicklungssprünge, die Babys in den ersten 20 Monaten durchlaufen sollen. Diese „Sprünge“ werden oft mit unruhigen Phasen, erhöhter Anhänglichkeit und Weinen verbunden – und mit dem Auftreten neuer Fähigkeiten. Die Idee dahinter: Wenn Eltern verstehen, was gerade im Gehirn ihres Kindes passiert, können sie entspannter mit schwierigen Phasen umgehen.

Die wissenschaftliche Grundlage – was steckt hinter den Entwicklungssprüngen?

Kleine Studie – große Wirkung? Warum „Oje, ich wachse!“ nicht für alle Babys passt

Ein wichtiger Punkt, den viele beim Lesen von „Oje, ich wachse!“ nicht wissen: Die zugrunde liegende Studie war sehr klein. Insgesamt wurden nur 15 Mutter-Kind-Paare begleitet – und davon lediglich 9 intensiv ausgewertet. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das eine äußerst begrenzte Basis, um daraus allgemeingültige Aussagen über die Entwicklung aller Babys abzuleiten.

Natürlich gibt es Kinder, auf die die beschriebenen „Sprünge“ scheinbar perfekt zutreffen. Doch genauso gibt es viele, bei denen das überhaupt nicht der Fall ist. Und das ist ganz normal. Jedes Kind entwickelt sich individuell – in seinem eigenen Tempo, in seinem eigenen Kontext.

Genau deshalb kann das Buch zwar Orientierung bieten, aber es muss nicht auf dein Kind zutreffen. Wenn wir versuchen, die Entwicklung in ein festes Schema zu pressen, übersehen wir schnell, wie vielfältig und individuell diese eigentlich ist. Statt dich zu fragen: „Warum macht mein Baby das (noch) nicht?“, darfst du dich fragen: „Was zeigt mir mein Kind gerade wirklich – unabhängig vom Kalender?“

Als Orientierung kann das Buch hilfreich sein – aber es ersetzt nie den aufmerksamen, liebevollen Blick auf das eigene Kind. Oder wie Remo Largo es ausdrücken würde: Entwicklung ist keine Checkliste – sie ist ein individueller Reifungsprozess. Und genau deshalb darf sie bei jedem Kind anders aussehen.

Warum es trotzdem vielen Eltern hilft

Trotz methodischer Schwächen erleben viele Eltern das Buch als hilfreich. Es kann erleichternd sein, in unruhigen Phasen zu lesen: „Das ist normal – mein Kind ist nicht alleine damit.“ Das Gefühl, verstanden zu werden, kann Druck herausnehmen. Besonders beim ersten Kind ist es oft beruhigend, ein Erklärungsmodell zur Hand zu haben.

Warum das Buch auch verunsichern kann

So hilfreich die Erklärungen sein können, so sehr bergen sie auch eine Gefahr: den Erwartungsdruck. Wenn im Buch steht, dass das Baby ab Woche X bestimmte Fähigkeiten zeigen „soll“, fragen sich viele Eltern: „Warum kann mein Kind das noch nicht?“
Hier lohnt sich der Blick auf andere Perspektiven – zum Beispiel von Remo Largo oder Herbert Renz-Polster. Sie betonen: Jedes Kind entwickelt sich in seinem eigenen Tempo. Entwicklung ist kein Fahrplan, den alle gleichzeitig abarbeiten. Remo Largo sprach von einer „Bandbreite der Entwicklung“, in der alles normal ist – nur eben nicht gleichzeitig bei allen.
Auch Herbert Renz-Polster kritisiert das Sprungmodell deutlich, u. a. in seinem lesenswerten Blogartikel „Entwicklung passiert nicht in Sprüngen“. Er erklärt, dass kindliche Entwicklung viel komplexer und individueller ist – und dass die Vorstellung klar umrissener Reifungsschübe der Realität nicht gerecht wird.

Wenn Erwartung Verhalten formt – die selbst erfüllende Prophezeiung

Ein weiterer kritischer Punkt beim Umgang mit „Oje, ich wachse!“ – insbesondere mit der begleitenden App – ist die Erwartungshaltung, die sie erzeugt. Wenn mir angezeigt wird: „Ab Tag X wird dein Baby quengelig, anhänglich und weinerlich“, dann richte ich meine Aufmerksamkeit genau auf diese Signale. Ich warte förmlich auf das „schwierige Verhalten“. Und genau das kann dazu führen, dass ich mehr Unruhe wahrnehme – oder sogar durch meine eigene Anspannung mit verursache.

In der Psychologie nennt man das eine selbst erfüllende Prophezeiung: Ich erwarte ein bestimmtes Verhalten – also interpretiere ich die Realität (bewusst oder unbewusst) so, dass sie zu meiner Erwartung passt. Das kann dazu führen, dass sich Eltern in den „roten Phasen“ mehr Sorgen machen, weniger gelassen reagieren oder schneller überfordert sind – obwohl ihr Kind vielleicht ganz normal entwickelt ist.

Mein Tipp: Nutze solche Zeitleisten höchstens als grobe Orientierung – aber nicht als fixe Vorhersage. Beobachte dein Kind im Hier und Jetzt. Es entwickelt sich nicht, weil die App es sagt, sondern weil es reift – in seinem ganz eigenen Tempo.

Fazit: Wie du das Buch nutzen kannst, ohne dich zu stressen

„Oje, ich wachse!“ kann ein hilfreiches Werkzeug sein – wenn du es flexibel nutzt. Nimm mit, was dich stärkt, und lass los, was dich stresst. Es ist völlig okay, wenn dein Baby nicht alle Entwicklungsschritte „pünktlich“ durchläuft – vielleicht kommt das Neue einfach leiser, oder ganz anders.
Vertrau auf dein Kind, auf eure Bindung – und wenn ein Buch Druck macht: Du darfst es auch zur Seite legen.

Wenn du merkst, dass dich das Buch eher verunsichert als unterstützt – du bist nicht allein. Entwicklung verläuft individuell, und kein Kalender der Welt kennt dein Kind so gut wie du.
Möchtest du mehr darüber erfahren, wie kindliche Entwicklung wirklich abläuft – jenseits von Tabellen, Apps und festen Zeitplänen? Dann stöbere gern durch meine weiteren Beiträge oder buche eine individuelle Beratung. Ich begleite dich gern auf eurem ganz eigenen Weg.

Weiterführende Informationen & Quellen

Mertens, M. (2020). Kritik an Entwicklungstabellen in Baby-Apps. In: Psychologie Heute, Ausgabe 11/2020.

van de Rijt, H., & Plooij, F. X. (1992). Oje, ich wachse! München: Goldmann Verlag.

Largo, R. H. (2002). Babyjahre: Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. München: Piper Verlag.

Renz-Polster, H. (2021). Entwicklung passiert nicht in Sprüngen. Blogartikel. www.kinder-verstehen.de

Hopman, M., & de Wolff, M. (2015). Scientific evaluation of the Wonder Weeks theory. University of Groningen. [Zusammenfassung auf Englisch verfügbar]